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19 Mai 2019

Der Rôl dal Nono Carli - Geschichte eines alten Eichenbaums

19 Mai 2019
Andrea Maroè

Der Rôl dal Nono Carli - Geschichte eines alten Eichenbaums

Er ist ein Symbol. Ein alter Eichenbaum hinter den Friauler Moränenhügeln. Hoch über seinen Wurzeln aufragend, beobachtet er in den Vollmondnächten alles, diese kleine Heimat, und wenn der Himmel klar ist, sieht er die Lagune von Marano glitzern.



Der Rol dal Nono Carli hat Kriege und das Erdbeben erlebt. Es gab ihn schon, als es in den Häusern noch kein elektrisches Licht gab und man das Trinkwasser kübelweise von unten über die hundert Stufen, die zum Fluss Urana führten, holte. Er hat die alte Ortschaft Cragnolin über Magnano in Riviera verschwinden und die Terrassierung des alten Carli entstehen und wachsen gesehen.

Der Eichenbaum hat jahrelang das Leben dieses Einzelgängers beobachtet, der mit seinem grünen Rucksack und der Doppelflinte auf den Schultern, seinem stolzen Franz-Josef-Schnurrbart und den blauen Augen eines Paul Newman die Wälder des Fait durchstreifte. Er jagte Wildschweine und sammelte Krebse, als er, der ehemals junge Wilderer und nach Belgien ausgewanderte Minenarbeiter, an seinen Geburtsort zurückgekehrt war, um in den Wäldern zu sterben. Er sammelte wilden Spargel und lebte mit seinem Hund und seinen geliebten Vögeln. Er war der Einzige, der nach dem Erdbeben 1976 geblieben war und weiter in den Wäldern lebte. Er hatte nichts davon wissen wollen, unten nach Tarcento zu ziehen und hatte weiter in seinen Wäldern gelebt, unter dem alten Eichenbaum, in einer alten Blechhütte, bis das alte Leiden ihn dann als Einsiedler in andere und höhere Wälder verschlagen hatte.

So war dem Eichenbaum der Namen dieses ungestümen und einzelgängerischen Alten zuteil geworden, der ihn fast zu seinem Wohnsitz doch vor allem als Symbol einer Begebenheit am Ende des zweiten Weltkrieges gewählt hatte, da er unter ihm jedes Jahr die "Nichterschießung" aller Einwohner der Ortschaft Cragnolin feierte. Denn in den letzten Kriegsmonaten hatten SS-Leute der Nazi-Besatzer die mehr als 50 Einwohner des Ortes allesamt vor dem Altarbild der Madonna von Billerio zusammengepfercht, doch das wie durch ein Wunder einem Partisanenattentat entkommende oberste Parteimitglied hatte diese armen Leute verschonen lassen, indem es die Hinrichtung unerwartet stoppte.
Unter diesen Leuten befanden sich seine Ehefrau, seine Kinder und viele Verwandte und Freunde. Und so feierte Carli unter dem großen Eichenbaum den 4. Januar in Erinnerung an jenes Wunder bei Kriegsende. Der alte Eichenbaum war dem Alten immer dankbar dafür, zur "lebendigen Erinnerung" dieses so außergewöhnlichen Ereignisses erkoren worden zu sein und hatte, auch wenn er dort zwischen den Felsvorsprüngen des Hangs nicht mehr sehr viel wuchs, stets versucht, für diesen Anlass eine gute Figur zu machen.

Ich hatte ihn fast zufällig entdeckt, zusammen mit der Erzählung dieses Alten, die ich noch das Glück gehabt hatte, erzählen zu hören. Dann war ich mehrere Male aus reinem Vergnügen darauf geklettert und hatte ihn aus Passion gepflegt, weil ich ihn wie einen entfernten Verwandten angenommen hatte. Von seinen Ästen aus habe ich in der Ferne Udine leuchten sehen und in den Sommernächten die Zikaden zirpen hören.
Seit mein alter Kirschbaum tot ist, ist der "Rol dal nono Carli" zu "meinem" alten Baum geworden und jedes Mal, wenn ich durch die alten Wälder über Magnano in Riviera nach oben steige, kann ich nicht anders und muss ihn besuchen. Manchmal setze ich mich einfach ins Gras und lasse, geschützt von der Frische seiner Zweige, meinen Blick über die Ebene schweifen, andere Male komme ich am Gipfel an und komme zur Ruhe, lasse die schlechten Gedanken auf seine alten Wurzeln sinken.

Es ist ein alter Baum, nicht riesig, doch extrem besonders.
Die geriffelte Rinde schlängelt sich langsam in Richtung Himmel, seine Äste streifen die nahestehenden Kastanien und seine Wurzeln umschlingen die Felsen und sprechen mit dem Gras.
Seinem sanftmütig in dem großen Wald ruhenden leichten Geist, der doch stolz auf das unendliche Meer blickt, gelingt es stets, ein aufgewühltes Gemüt wieder zur Ruhe zu bringen.
 
 
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Andrea Maroè

Ich suche die ältesten, größten, erhabensten und geheimnisvollsten Bäume unseres Planeten, besteige sie, vermesse sie und verteidige sie. Ich liebe es, unsere Wälder und unsere herrliche Natur auszuleben.

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