Claudio hatte mich mehrmals gebeten, mit ihm einen seiner Meinung nach spektakulären Baum ansehen zu gehen. Claudio ist ein äußerst fähiger Naturführer, ein Baumkenner und ein großer Reisender. Endlich habe ich es mit zwei weiteren Freunden geschafft, mich einer dreistündigen Führung zur Vajont-Staumauer bei Erto e Casso anzuschließen.
Claudio hat die Gruppe bei der Besichtigung der Orte, die Schauplatz dieses ungeheuren Leids waren, begleitet und uns dabei die Geschichte des Baus eines für die damalige Zeit unglaublichen Bauwerks erzählt, doch auch von der Geldgier weniger Männer, die unter Schmähung des Lebens vieler Menschen ihr Projekt fortgesetzt haben, obwohl die Natur in Gestalt eines großen Bergs sie vor der bevorstehenden Gefahr warnte. Fast wie ein Paradigma dessen, was heute weltweit geschieht und was wir einfach nicht verstehen wollen. Zwei Millionen Felsen, die bei einer Geschwindigkeit von 100 km in ein von der enormen menschlichen Dummheit und Gier hartnäckig verteidigtes Becken herabstürzten, haben innerhalb kürzester Zeit 2000 Menschenleben vernichtet. Die riesige Staumauer dagegen ist dort geblieben, um uns an unsere Fehler zu erinnern, so wie auch die beeindruckende Ansammlung von Gesteinsschutt, die in jener Nacht des 9. Oktobers von vor über 50 Jahren in wenigen Sekunden in einen künstlich angelegten See geschleudert wurde. Claudio erzählt von der kleinen Kirche, an deren Dach die Richtung der schrecklichen Welle zu erkennen ist, zeigt uns den unglaublichen Bauch des großen Stausees und die wenigen Reste jener Straße, die nach Longarone führte. Dann begleitet er uns in den Wald, der in 50 Jahren auf dem riesigen Erdrutsch gewachsen ist. Vor einem schiefen Baum hält er an und erzählt: " Jahre lang habe ich Leute begleitet, um diesen Wald zu besichtigen und dabei erklärt, dass alle Bäume, die man sehen konnte, nach jener schrecklichen Nacht gewachsen waren und daher nicht mehr als 50 Jahre alt sein konnten. Doch allmählich habe ich festgestellt, dass einige Bäume bis zur Erschöpfung gekämpft hatten, um die Katastrophe zu überleben, die unweigerlich auch sie getroffen hatte.
Sehr viele Bäume des Walds des Monte Toc waren von dem Erdrutsch vollkommen zerstört worden, ein großer Teil verschüttet, entwurzelt und in Stücke gerissen. Doch einigen, denen die am meisten Glück hatten, war es gelungen, an die Oberfläche des Erdrutsches zu gelangen und hatten sich liegend oder vollkommen schief auf diesem wiedergefunden, nachdem das Drama geschehen war. Diese wenigen Bäume hatten versucht, dem Unglück, das sie getroffen hatte, die Stirn zu bieten, hatten versucht, neue Wurzeln und neues Blattwerk zu bilden. Sehr viele von ihnen hatten es nicht geschafft. Einige wiederum doch. Einigen, wie dem krummen Baum vor uns, ist es gelungen zu überleben. Auch wenn sie in ihren schiefen Stämmen die Geschichte jener furchteinflößenden Nacht trugen. Der, den Sie hier sehen, war vor 55 Jahren wahrscheinlich noch sehr jung und ursprünglich 400 Meter weiter oben gewachsen. Doch weiter vorn werden wir andere Exemplare finden, besonders einen, die an jenes Drama erinnern."
Er nimmt den Weg wieder auf. Wir alle folgen ihm still. Ich blicke auf den Wald, der über dem Erdrutsch weitergewachsen ist. Viele Bäume sind noch jung, doch es gibt ein paar krumme unter ihnen, deren Spitze im Laufe der Zeit gerade geworden ist. Bei den überlebenden Arten handelt es sich vor allem um Fichten und Lärchen. Und vielleicht sind genau sie es, die allmählich, zusammen mit anderen ersten Arten (Schwarzkiefern, Waldkiefern, Bergkiefern, Weiden, Pappeln, Birken und einige seltene Buchen) den neuen Wald gebildet haben, ein Beispiel einer natürlichen Kolonialisierung einer von einer Katastrophe vollkommen zerstörten Umgebung. Etwas weiter vorn bleibt Claudio stehen und ruft "Und hier ist die Hymne an das Leben, das lebendige Denkmal, das die Tragödie besiegt hat." Vor uns liegt eine dicke Fichte mit einigen vollkommen freiliegenden alten Wurzeln in der Horizontale. Aus ihrem alten, quer liegenden Stamm ragen zwischen moosbedeckten toten alten Ästen sechs neue dicke Stämme auf. Und zwar perfekt senkrecht. Über 20 Meter hoch. "Der in jener Nacht aus seiner Verankerung im Boden entwurzelte Baum fand sich gefällt und mit zum Teil freiliegendem Wurzelwerk wieder, doch ein Teil von ihm war noch im Boden des Erdrutsches verschüttet und lebendig. Er hat gekämpft, um nicht zu sterben, hat neue Stämme aus dem alten entstehen, die unnützen Teile absterben lassen und sich stolz wieder über den ganzen Wald erhoben. Ein echtes Denkmal an das Leben!"
Während ich zuhöre, misst Claudio den Umfang des Baumes. Es sind 2,70 Meter unermüdlichen Kampfes gegen das Schicksal. Ein lebendiges Monument zur Erinnerung an jenen dramatischen Abend. Ein stiller Zeuge dieser Tragödie, die auch sein Leben und sein natürliches Gedeihen durcheinandergebracht haben. Der größte gerade Stamm misst 1,20 cm. "Wie alt mag der zur Zeit des Vajonts gewesen sein?" fragt mich jemand aus der Gruppe. Ich zähle die Astreihen, die der Baum während seines Längenwachstums jedes Jahr bildet und die auf dem alten Stamm noch gut erkennbar sind. "Ich denke um die dreißig Jahre". Ein Kind, denke ich im Weggehen, wie die über 400 Kinder, die in jener Nacht das Wasser mit sich gerissen hat. Wir durchqueren den Wald weiter, bis wir fast auf dem höchsten Punkt des Erdrutsches ins Freie gelangen. Vor uns liegt das Dörfchen Casso, das mit seiner von den Wassern verschlungenen alten Schule auf den Hängen des Monte Salta ruhend auf uns niederblickt. Einige Freeclimber klettern unten an ihren berühmten Felswänden herum, dort, wo auch Mauro Corona trainierte. Ich betrachte sie, während sie sich unbeschwert auf dem Felsüberhang bewegen. Es ist ein schöner sonniger Tag.
Ich suche die ältesten, größten, erhabensten und geheimnisvollsten Bäume unseres Planeten, besteige sie, vermesse sie und verteidige sie. Ich liebe es, unsere Wälder und unsere herrliche Natur auszuleben.