
Nachmittag vor Heiligabend. Ich bin noch nicht lange von den Gletschern und dem Wind in Patagonien zurück. In der Garagenbox sehe ich mein Snowboard und meine Schneeschuhe, seit mindestens zwei Jahren ungenutzt und stark verstaubt. Sie scheinen mich anzuflehen, etwas mit ihnen zu unternehmen. Am Luschariberg in den Julischen Alpen, nahe Tarvis, gibt es sicher Schnee.
Ich grabe meinen alten Rucksack aus. Schmeiße meine Handschuhe und Wechselkleidung hinein. Nehme meine Bergschuhe mit den stark abgenutzten Schnürsenkeln. Werfe alles ins Auto. Überbringe noch persönlich die letzten Weihnachtswünsche. „Es gibt gedünstete Kutteln, wohin gehst du?“„Ich muss weg, entschuldigt bitte, Frohe Weihnachten!“ Es ist beinahe 10 Uhr abends als ich unter den Pisten ankomme. Mindestens fünf Pistenfahrzeuge fahren rauf und runter, um die Pisten für Weihnachten zu präparieren. Ich schaue ihnen bei der Arbeit zu. Mit ihren Scheinwerfern sind sie ein Spektakel auf dem weißen Schnee. Sie bewegen sich schnell wie beim Tanzen. Ich bereite meine Ausrüstung vor.
Minus sechs Grad. Ich ziehe die Schneeschuhe und die Handschuhe an und buckle den Rucksack mit dem Snowboard und der frischen Kleidung für danach. Kein Wasser, kein Proviant. Ich habe genug gegessen und getrunken. Jetzt beginne ich am Pistenrand aufzusteigen. Die Pistenfahrzeuge sind noch nicht fertig. Zwei fahren nahe an mir vorbei, werden langsamer und sehen mich neugierig an. Ich grüße sie. Es ist Heiligabend. Sie lassen diesen Verrückten in der Weihnachtsnacht weiter aufsteigen, ohne einzugreifen. Der Sternenhimmel ist überwältigend. Der Schnee reflektiert das Licht der Dörfer im Tal. Die Stirntaschenlampe muss nicht eingeschaltet sein. Der anfängliche Eifer weicht bald einem langsamen Keuchen, das das Knirschen des Schnees begleitet. Ich steige auf der noch nicht präparierten Piste auf und sehe zum Himmel. Eine Sternschnuppe hinterlässt einen langen Schweif im mit Lichtpunkten übersäten Himmel. „Schütze meine Kinder“ ist der Wunsch, der mir durch den Kopf geht, während ich den beschneiten Hang hinaufgehe. Der Stern geht langsam aus, gerade so, als ob er bis zum Ende beobachtet werden will. Über mir herrisch der Orion auf einem Sternenteppich, während der Aldebaran unglaublich stark funkelt. Es ist eine verzauberte Nacht.. Klar. Die Weihnachtsnacht. Alle sind weit weg, in ihren Häusern, und feiern. Ein Verrückter steigt in der sternenklaren Stille der Nacht die Piste hinauf. Die Lichter im Tal scheinen meine Schritte zu begleiten und mehrmals drehe ich mich im Gefühl um, verfolgt zu werden. Aber es sind nur meine frierenden Gedanken, die ich im Auto gelassen hatte und die versuchen, mich einzuholen.
Die hohen schwarzen Tannen grenzen die Piste ab und spielen mit unzähligen Sternen Verstecken. Auf halbem Weg bin ich atemlos. Durchhaltevermögen ist gefragt. Atme langsam und gehe noch langsamer wie du atmest. Wenn du müde bist, kannst du noch doppelt so weit gehen. Werde langsamer, wie in der Apnoe, wenn du keine Luft mehr hast, verjage die Gedanken.Werde langsamer. Du wirst länger durchhalten. Du wirst weiter kommen. Der Schnee steigt in Richtung Gipfel an. Einen Schritt und dann noch einen. Leise und langsam wie ein Alter. Erinnere dich an das Motto Santiagos: „Willst du jung ankommen, gehe wie ein Alter.“ Ich steige in der Nacht auf. Ich betrachte die Sterne und die schwarzen, stummen Baumwipfel. Vielleicht sollte ich Angst haben. Vor der Stille, vor der Nacht, vor dem Unbekannten. Vielleicht. Aber stattdessen steige ich langsam auf und in der Ferne erscheint die Spitze des Glockenturms, dann die Dächer, schließlich die Lichter des kleinen verschlafenen Dorfs. Die Müdigkeit verschwindet, sobald ich bei den ersten Häusern ankomme.
Ich lasse die Schneeschuhe und das Snowboard an der Mauer angelehnt und gehe zur Kirche. Es ist elf. Rundum nur Stille und Verschlafenheit. Neugierig schaue ich durch die noch erleuchteten Fenster eines Hotels. Eine Dame liest in der Nähe des Feuers. Fern im Tal gehen Lichter an und aus. Hier oben ist alles in eine von ewigen Sternen gestickte unendliche Schneedecke gehüllt. Die Kirche ist natürlich abgeschlossen. Vor einem Jahr in Portugal war ich Heiligabend ebenso allein, mit einer Thunfischdose in einem Albergue des Camino Portoghese, in einem abgelegenen Bergdorf. Eine Frau brachte mir ein Stück Torte. Heute bin ich hier. In meinem Friaul. Wieder zurück von einer anderen langen Reise, bei der ich zwischen riesigen Gletschern und riesigen blauen Seen grüne und ewige Giganten suchte. Der Bär in mir hat wich wieder einmal dazu gebracht, die Stille meines Landes zu genießen. Auch wenn immer in der Nähe dessen, was der Fleiß und die gute Religiosität der Menschen hervorgebracht hat. Ich atme das Gute und die Energie der Schöpfung. Heiligabend.
Ich bin kurz vor dem Abfahren. Unter der Kirche rauchen drei junge Männer vor dem einzigen beleuchteten Lokal. „Habt ihr geöffnet?“ – „Was brauchst du?“ – „Ein Glas Wasser, ich habe kein Geld bei mir.“ – „Komm herein, es ist Weihnachten, trink was mit uns.“
Vor einem Bier lernen wir uns in fünf Minuten kennen und ganz so, als ob wir seit jeher Freunde wären, trinken wir etwas zusammen und erzählen uns gegenseitig voneinander. Jeder von seinen Wünschen, Erwartungen an das Leben, seinen Problemen mit der Arbeit. Die jungen Männer haben ihre Schicht in den jeweiligen Bars und Restaurants hier am Luschariberg beendet. „In vier Stunden über 300 Gedecke. Heute hatten wir volles Haus und morgen, mit den so gut präparierten Pisten und der Sonne, werden noch mehr Leute kommen.“ Es muss ein langer Arbeitstag gewesen sein. Aber jetzt sind sie zusammen. „Es ist Mitternacht! Es ist Weihnachten! Frohe Weihnachten uns allen!“. Um ein Uhr nachts verlasse ich sie, glücklich sie getroffen zu haben, hier im Schnee und in der Stille dieser seltsamen Weihnachtsnacht.
Ich schnalle das Snowboard an und bin etwas besorgt, mich nicht mehr an die Bewegungen zu erinnern. Zwei Schwünge, der Körper stellt sich ein und die Muskeln erinnern sich an alle notwendigen Positionen. Ich gleite langsam hinab und genieße den Schnee einer perfekten und unberührten Piste. Der Schnee gleitet wie Wellen im Meer unter mir weg und begleitet mich, während ich in der Nacht mit klarem Kopf und leichten Herzens abfahre.
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