
Dieses Mal brachen wir von der Alm Malga Monteriù (Valle del Lumiei von Lateis – Ampezzo) auf und gingen in Richtung Casera Campo. Es ist ein wunderschöner Tag. Die Berge ringsum bilden einen herrlichen Rahmen. „Das ist die Alm Palazzo, darüber ist die Alm Gerona und noch weiter hinten liegt die Alm Pieltinis“, erklärt mir Giorgio, der zügig vor mir gehende Kollege der Forstbehörde. Hinter mir Ira. Ein merkwürdiger Name, der soviel wie umsichtig, aufmerksam bedeutet. Ihren Namen habe ich dem höchsten Baum Friauls gegeben, weil wir ihn gemeinsam in diesen Wäldern gefunden haben und mich die Vorstellung, dass er über alle Bäume dieser Täler wacht, glücklich macht.
Heute ist unser Ziel der herrliche Teufelswald Bosco del Diavolo, einer der naturbelassensten unseres Alpenraums, weil er nur schwer zugänglich und somit noch unberührt ist. Wir gehen still, beinahe um zu hören, wie uns der Wald empfängt. Ich finde frische Hirschspuren auf dem Weg. Es ist nicht mehr weit bis zur abgeschiedenen Casera Campo als ich etwas weiter unten, während mein Blick über die alten Lärchen wandert, eine herrliche Hirschkuh sehe, die mich unverwandt anblickt. Es ist ein Augenblick, ohne Angst zieht sie sich in das Dickicht zurück und verschwindet. Ihre neugierigen Augen in meinen bleiben in meinem Gedächtnis eingeprägt. Ich drehe mich um und sehe Giorgio an. Er lächelt. Auch er hat sie gesehen. Wir gehen ruhig weiter und mein Blick sucht weiter nach Spuren auf dem Boden. So gut wie sicher, dass sich die Hirschkuh noch einmal blicken lässt.
Aber an ihrer Stelle sehe ich blaue Markierungen auf den Bäumen, die unseren Weg säumen. Giorgio erklärt: „Hier ist eine Forststraße geplant, um Holz zu fällen.“ „Auch nur der Gedanke daran, diese Orte zu zerstören, um einige Bäume zu fällen und Holz zu gewinnen, ist unerträglich. Es ist einer der schönsten Orte unseres Friauls“, erklärt er mir verzweifelt und verärgert. Wir sagen nichts mehr und gehen weiter. Ich suche mit dem Blick weiter nach der Hirschkuh.
Aber mittlerweile sind wir bei Casera Campo angelangt. Fachmännisch von jemandem, der dieses Land liebte und nicht ausnutzte, vereinte Steine und Holz. Im Respekt der Jahreszeiten und des Lebens, im Bewusstsein, dass er Teil einer Natur war, die ihn nur unterstützte, wenn sie geliebt und verstanden wurde. Auf einem vom Almsenner in einem Augenblick der Entspannung gehauenen Stein ist ein Tier zu sehen. „Entlang des Weges gibt es noch mehr davon“, erklärt mir Giorgio als er meinen neugierigen Blick sieht. Ich schaue genau. Es ist ein stilisierter Hirsch mit einem großen Geweih und zwei intensiven Augen. Er scheint meinen Blick zu erwidern.
Wir steigen einige hundert Meter ab, um zu sehen, in welchem Zustand sich die älteste Lärche Friauls befindet. Der Schnee vor einigen Jahren hatte ihr stark zugesetzt und einige Zweige abgebrochen. Ich erinnere mich daran, dass sie in einem ziemlich schlechten Zustand war. Aber der starke Baumstamm mit über 5 Meter Umfang hatte die Kraft gefunden und sich herrlich erholt. Neue Knospen zieren die alten Zweige und ihre Baumspitze ragt glänzend über die jüngeren, sie umrahmenden Lärchen empor. In diesen Bergen überleben nur Wesen, die es gewohnt sind, gegen Schmerzen und Leiden des Lebens anzukämpfen. Egal, ob es sich dabei um Menschen, Tiere oder Pflanzen handelt.
Wir beschließen, ein kleines Stück eines auf den Boden gefallenen Zweigs mitzunehmen, um das Alter der herrlichen, alten Lärche bestimmen zu können und gehen in Richtung Casera Veltri weiter. Nicht weit entfernt hören wir die Warnlaute von Rehen, die uns gesehen haben und flüchten, ohne dass wir sie sehen konnten. Ich gehe voran und auf oder neben dem Weg finde ich wieder frische Hirschkuhspuren. „Sie ist vor uns“, denke ich. In meinen Gedanken stelle ich mir die Hirschkuh vor, die nur wenige Meter vor uns geht und sich, zwischen Zweigen versteckt, neugierig nach uns umdreht und sich fragt, wer wir wohl sind und wer dieser Mensch ist, der ihren Blick so intensiv gekreuzt hat. Ich gehe schneller und lasse meine Gefährten mit Abstand hinter mir. Ich weiß, dass sie mich will. In der Ferne erhebt sich der Gesang eines Auerhuhns aus dem Nebel auf der Wiese. Giorgio ist ein Experte dieser Vögel und oft besucht er diese Täler nachts, um sie finden und fotografieren zu können. Ein Schritt, ein Knirschen und plötzlich fliegt links von mir ein anderes Auerhuhn verängstigt auf. Ich drehe mich um und warte auf Giorgio. „Hast du es gesehen?“, frage ich. „Ja, du bist ein richtiger Glückspilz. Zuerst die Rehe, eine Hirschkuh und jetzt auch noch ein Auerhuhn …“, antwortet er.
Wir gehen weiter. Wieder höre ich ein Geräusch im Gestrüpp des Waldes. Und wieder erhebt sich vor uns ein verängstigtes Auerhuhn im Flug. Das Huhn weiter oben hat aufgehört zu singen. Ich denke, dass auch meine geliebte Hirschkuh von heute vor unseren schweren und furchteinflößenden Schritten geflüchtet sein wird. Aber manchmal sehe ich noch ihre Spuren auf feuchten Wegabschnitten. Ich spüre und begehre ihre Präsenz.
„Rehe bellen und sprechen vor allem im Frühjahr während der Paarungszeit miteinander. Hirsche hingegen röhren nur im Herbst, wenn Sie auf Partnersuche sind. Den Rest des Jahres geben sie keine Laute von sich.“ So erklärt es mir Ira, die vermutlich in ihrer Fraulichkeit intuitiv ahnt, was ich suche und mir erwarte.
Wir treten nun zwischen zwei steilen Mulden unter dem Gipfel des Bergs Monte Veltri über dem Teufelswald Bosco del Diavolo in ein Tal ein. Die blauen Markierungen der zu bauenden Forststraße verfolgen uns böse und wecken in uns düstere Vorahnungen. Dann geht das Tal plötzlich auf, die Alm Veltri heißt uns mit einem Lächeln aus hunderten Gipfeln willkommen und wir setzen uns einen Augenblick, um die antike Schönheit einer den Meisten unbekannten Welt zu bewundern. Die Hütte in ihrer bescheidenen und antiken Einfachheit ist wunderschön.
„Jetzt gehen wir in den Teufelswald hinab, wo ich viele große Bäume gesehen habe, die dich vermutlich interessieren werden“, sagt Ira, während wir uns wieder auf den Weg machen. Ein bisschen enttäuscht denke ich, dass ich „meine“ Hirschkuh nicht mehr sehen werde, aber dafür werde ich neue fantastische Bäume treffen. Bevor wir in den dichten Wald eintreten, verabschiede ich mich von den Gipfeln und bedanke mich bei ihnen.
Langsamen Schrittes gehe ich durch das dunkle Dickicht des Walds und schaue auf den Weg. Plötzlich spüre ich eine eindrucksvolle Präsenz. Nur wenige Meter von mir entfernt, teils von einem alten Baumstamm versteckt, blickt mich ein statuarisches Tier an. Ich hebe langsam mein Gesicht und kreuze seinen Blick. Es ist meine Hirschkuh. Sie ist erschienen, um sich von mir zu verabschieden, während ich ihr Reich verlasse. Furchtlos bewegt sie sich leicht und kommt aus ihrem Versteck hervor, gerade so, als ob sie sich mir in ihrer ganzen, großartigen Pracht zeigen wolle. Die großen Ohren bewegen sich, um Geräusche aufzufangen. Ihre schwarzen Augen schauen mich starr an. Sie neigt den Kopf, beinahe so, als wolle sie mich leicht und königlich grüßen, und dann dreht sie sich um und verschwindet geräuschlos. Ich bleibe noch ein paar Sekunden unbeweglich stehen. Überwältigt von diesem Geschenk, diesen klaren und tiefen Blick.