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11 Juli 2018

Die Eiche von Sterpo

11 Juli 2018
Andrea Maroè

Die Eiche von Sterpo

Sie stand vor mir. Alt, aber ausgesprochen majestätisch. Plötzlich saugte sie mich in ihr Stamminneres und ich fühlte mich, sechs Jahrhunderte zurückversetzt, wieder Kind. Die alten Spinnweben lichteten sich, von oben der immensen Höhle fiel Licht ein. Als sich meine Augen an das Dunkel gewöhnt hatten und Angst und Überraschung nachließen, kletterte ich hinauf.

Ich fühlte ihre raue Haut unter meinen Händen und wusste wie alt diese Falten waren. Bevor ich das Gesicht aus dieser antiken, vor vielen Jahrhunderten vom Wetter und vom Menschen verursachte Spalte streckte, wartete ich einen Augenblick ab. Im Licht konnte ich ihre ausgebreiteten, unendlich langen und gebogenen Arme sehen, die das Licht einfingen und mit Moos und rauer, brauner Rinde bedeckt waren.

Ich befand mich im Herzen des lebendigen Giganten, wo einst, vor Jahrhunderten, sein Leben begann. Und ich fand meine vor 20 Jahren hinterlassenen, in die mittlerweile beinahe felsigen Fasern eingeritzten Spuren wieder. Benetzt mit den Farbspritzern, die ich wie ein Maler verstreut hatte. Es waren zwanzig Jahre vergangen seit ich zum ersten Mal in den Schoß des Riesen eingedrungen war. Damals brachten mich mein wissenschaftlicher Wissensdrang hin, meine Leidenschaft und mein Arbeitsdrang hin. Heute fühle ich mich viele, zu viele Jahre älter und müder, während der Riese mit unveränderter Kraft weiterwuchs.

Aber im Dunkel schlägt sein Holzherz seit ungedenker Zeit und ich setzte mich in seine Umarmung. Die alte Eiche hatte mich empfangen so wie ich war. Sie erinnerte sich an den lächelnden Jungen von früher und nahm ihn wieder auf. Im Bewusstsein, dass für ihn die Zeit sehr viel schneller vergangen ist. Ich blieb im Schutz ihrer Hülle. Während draußen, zwischen ihren Zweigen Jugendliche herumstiegen, um sie zu pflegen. Ich hätte vielleicht keine Zeit und Möglichkeit mehr dazu gehabt, sehnte aber mit etwas Neid die Zeit ihrer unbeschwerten Jugend herbei. Am Ende legte ich mich ehrfürchtig wieder auf den Boden und kroch aus der kleinen Öffnung, die es mir ermöglichte, in sie einzudringen. Ich streichelte noch einmal ihren imposanten Stamm und beobachtete die Anmut ihrer jahrhundertealten Zweige.

Wieder hatte mich ein alter Baum zwischen seinen Blättern aufgenommen und mein Unwohlsein zerstreut. Wieder hatte mich ein großer alter Baum umarmt. Dieses Mal sogar in seinem Innern. Dann hatte er mich beinahe mich Leichtigkeit gehen lassen. Ich lächelte. Ich musste ihm danken. Ich verabschiedete mich von der alten Sommereiche in Sterpo und ging schweigend fort.
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Andrea Maroè

Ich suche die ältesten, größten, erhabensten und geheimnisvollsten Bäume unseres Planeten, besteige sie, vermesse sie und verteidige sie. Ich liebe es, unsere Wälder und unsere herrliche Natur auszuleben.

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