
Bikesharing, in der Stadt auf zwei Rädern

Der gestrige Wind hat das Grau vom Himmel gefegt. Heute gibt die Bora Ruhe, eine ausgezeichnete Gelegenheit für eine ungewöhnliche Mittagspause. „Fahrrad, ich komme!“ Wir versuchen, bei den Auffahrten gute Zeiten zu erzielen. Die Beine machen mit und die Lungen beginnen, sich mit Sauerstoff zu füllen. Und los geht's. Ziel ist der Monte di Muris, die erste Auffahrt der 14. Etappe des Giro 2018, die auf den Zoncolan führt. Schon nach wenigen Kilometern wird mir klar, dass heute nicht der Tag zum Zeitmessen ist. Mein Blick ist nämlich vom Blau des Himmels, den scheinbar zum Berühren nahen beschneiten Bergen, vom azurblauen Wasser der vielen Rinnsale und den von mir befahrenen Moränehügeln gefangengenommen.
In San Daniele fahre ich durch das Tor „Portonat“ in die Altstadt. Dort verweile ich fünf Minuten und mache Fotos von den Orten, an denen ich geboren wurde. Eigentlich müsste ich an sie gewöhnt sein, aber, wie allgemein bekannt, ist die Gewohnheit der Vorraum der Langeweile und mir ist es, als wäre ich das erste Mal unter diesem Himmel. Muris ist nicht weit entfernt. Ich bleibe am See von Ragogna stehen. Es ist schon zu lange her, als ich das letzte Mal seinem Atmen lauschte. Was für ein Schauspiel! Der Winter erhebt ihn zu einer himmlischen Schönheit, die Ruhe wird nur von seinen leichten Wellen unterbrochen. Die Sekunden laufen weiter, aber heute ist einfach nicht der Tag, um stur auf das Lenkrad zu blicken. Um die Wahrheit zu sagen, ist praktisch nie so ein Tag, denn das Friaul ist einfach zu schön, um es nicht immer zu bewundern! Es beginnt die von Anfang an schwierige Auffahrt mit ihren „Zoncolaner“ Steigungen. Zum Glück ist die Anstrengung nicht allzu lang, 3 km. Kurz vor dem Gipfel biege ich von der Hauptstraße ab und fahre zum Kirchlein San Giovanni. Hier wird alljährlich des Untergangs des Schiffes „Galilea“ während des Zweiten Weltkrieges gedacht, bei dem auf der Heimkehr von Griechenland Tausende Gebirgsjäger des Gemona-Battaillons den Tod fanden. Vom Plateau unterhalb des Kirchleins öffnet sich die Aussicht gen Norden. Der Tagliamento mit dem Verlauf seiner verflochtenen Kanälen beherrscht den Blick und ist ein Wunder für die Augen. Ich bin hingerissen, mein Herz schlägt schnell, die Emotion ist groß.
Ich fahre wieder auf die Hauptstraße, noch 500 Meter und ich bin oben. Hier hingegen spricht alles vom Ersten Weltkrieg und vom italienischen Widerstand, der, nach Caporetto (dem heutigen Kaborid), es so dem Großteil der Armee ermöglichte, sich hinter den Tagliamento zurückzuziehen. Hier gibt es viele sanierte Wege zu den militärischen Posten.
Jetzt fahre ich nach San Pietro ab, natürlich mit einer Foto-Pause am Aussichtspunkt der Kehre, dieses Mal wendet sich der Blick gegen Süden. Von hier sieht man unseren großen Fluss im Flachland fließen. Nach dem Engpass von Pinzano steht ihm bis zum Meer nichts mehr im Weg steht. Zwischen mir und meiner Arbeit liegt noch ein Stück Weg, ich werde besser beschleunigen. Aber für einige Wunder nehme ich mir noch Zeit. Eines davon ist die berühmte Auffahrt von Arcano zwischen kahlen Maulbeerbäumen mit dem gut erhaltenen Schloss im Hintergrund.
Am Ende komme ich rechtzeitig zu meinem ersten Arbeitstermin. Ich verwandle mich und mache mich ans Werk. Der Kunde schaut mich an, sieht mein lächelndes Gesicht und versteht nicht, weshalb ich so gelassen bin. Ob ich es ihm erklären soll? Es braucht ja nicht viel dazu: „Schau, wie blau der Himmel ist, ideal für eine Radtour.“
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